Darin stehen unter anderem Hinweise zu den Plätzen, zu Speisen und Getränken, zu eventuellem Regen und zur Kleidung. Die Damen werden im Abendkleid erwartet, die Herren im Gesellschaftsanzug.

Nur das Publikum in den ersten Reihen hält sich offensichtlich an diese Vorschrift. Zu meiner großen Überraschung ist die Arena keineswegs voll besetzt, was die Atmosphäre jedoch nicht beeinträchtigt. Vor Beginn der Aufführung laufen Verkäufer von Programmen, libretti, Kissen, mit Puppenkerzchen, panini und Getränken laut rufend durch die Reihen: pepsi, water, wine – red or white? Dann, endlich, eilt der Dirigent zu seinem Pult. Die bekannten Melodien der Ouvertüre erklingen, dann das Trinklied auf dem rauschenden Fest im ersten Akt. Nach 20 Minuten Pause geht die Vorstellung weiter. Wetterleuchten lässt manchen Besucher häufiger zum Himmel als auf die Bühne blicken. Nein – kein Gewitter, kein Regen! Violetta stirbt einen langen dritten Akt, in dem die Bühnenschräge schon vorsorglich mit weißen Tüchern ausgelegt ist… Kurz vor Ende der Vorstellung werden die Besucher gebeten, die Kissen nicht ins Parkett zu werfen, wegen Unfallgefahr.

Applausi, applausi für Verdis Oper, die er angeblich in nur 45 Tagen schrieb und deren Uraufführung am 6. März 1853 im Teatro Fenice in Venedig stattfand. Jedoch erst nach einer Überarbeitung wurde sie zu einer seiner meist gespielten Werke.

Bei „Carmen“ am nächsten Abend sitze ich auf den Stufen, hoch oben. Mit Kissen. Genau gegenüber der Bühne, sozusagen Mittelloge. Aber die Sänger sind doch ziemlich weit entfernt. Auch hier oben bieten die Verkäufer ihre Programme und Getränke an: „Signori da bere? Vino rosso, vino bianco, piu bianco non c’è!“ Viele Besucher haben sich ihre Speisen und Wasserflaschen allerdings mitgebracht. Aus den großen, prall gefüllten Körben, die ich vor vielen Jahren hier sah, sind bescheidene Plastikdosen geworden.

Gerade als ich die Harfen im Orchester zähle – es sind sechs - beginnt schon die Ouvertüre, und ich blicke kurz darauf auf das prachtvolle Bühnenbild von Franco Zefirelli, der auch Regie führt. Auf der Bühne herrscht lebhaftes Treiben, die Menschen sind in ständiger Bewegung. Pferde traben und galoppieren, Kinder reiten auf Steckenpferden – ein Fest für Augen und Ohren! Und im vierten Akt ist noch eine Steigerung möglich, als die Toreros in prächtigen Kostümen einziehen, das Ballett eine hinreißende Sevillana tanzt.

Weit nach Mitternacht erreiche ich wieder mein Hotel, noch ganz erfüllt von den beiden Aufführungen. Die Vorstellung, dass Bizets „Carmen“ bei der Uraufführung in Paris am 3. März1875 vom Publikum abgelehnt wurde, fällt mir schwer. Musiker wie Tschaikowsky, Brahms oder Debussy hatten diese Oper allerdings gleich hoch gelobt.

Mir gehen ganz andere Gedanken durch den Kopf. Wenn José in das große Oval der Arena die Arie „La fleur que tu m’avais jetée…“, singt, die mit „Carmen, je t’aime“ endet, hätte hier, mitten in Verona, ein „Carmen, io t’amo“ nicht passender geklungen? Aber Bizet vertonte ja ein französisch geschriebenes Libretto.

Den nächsten Abend verbringe ich im Teatro Romano, wo ich eine faszinierende Inszenierung von Shakespeare’s „Julius Cäsar“ sehe, in welcher der Regisseur Parallelen zu unserer Zeit herausarbeitet. Überaus intensiv sprechen die Verschwörer ihre Texte vor einer weißen Wand oder mitten im Publikum. Film- und Tonmaterial verdeutlichen eindringlich das Geschehen.

Noch ganz in Gedanken an diese Tage in Verona gehe ich am hell erleuchteten Ufer der Etsch zurück. Genieße die Stille, das dunkle Wasser, das warme gelbe Licht der Straßenlampen.

Coyright Ulrike Rauh - Fotos Ulrike Rauh - Nürnberg, 17.09.2016