Ich durchquere einen dunklen Durchgang, plötzlich vor mir dann der Campo in gleißendem Sonnenlicht. Seine kleinen Restaurants laden ein zum Espresso, zum Aperitif. Unnahbar ragt ein hoher Turm empor, oben abgeschnitten. Einst gehörte er zur Kirche Santa Margherita, die später in ein Theater umgewandelt wurde und heute als Auditorium der Universität Ca’ Foscari genutzt wird.

Ich öffne die schwere dunkle Tür, blicke mich suchend um.

Michela ruft meinen Namen.

“C’è un posto per te!“

Im nahezu vollbesetzten Zuschauerraum hat die Lesung schon begonnen. Auf der Bühne steht Mohamed Moksidi aus Marokko, ein junger Mann mit dichten schwarzen Locken, schwarzer Brille. Hinter ihm auf einer Leinwand lächelt er auf einem großen Foto, ein fröhliches Lächeln. Seine auf Arabisch vorgetragenen Gedichte trägt der Übersetzer so einfühlsam vor, als wären es seine eigenen. Wieder bin ich überrascht von den ungewöhnlichen Vergleichen, Bildern, Assoziationen, wie immer, wenn ich Texte arabischer Autoren kennen lerne.

Der Autor Abdilatif Abdalla aus Kenia erzählt auf Englisch lange aus seinem Leben, unterbricht sich dann und trägt eines seiner Gedichte vor. Für die Übersetzerin natürlich ein Problem, weshalb sie die Texte etwas emotionslos liest.

In der Pause gehen wir hinaus auf den Campo. Auf breiten Tischen unter einem großen weißen Zelt stapeln sich die Bücher der Autoren dieses Festivals. Die Besucher greifen zu den Publikationen, blättern, kaufen, holen sich Autogramme.

Dieses Festival „Incroci di Civiltà“, das jedes Jahr stattfindet, wird von der Universität Ca’ Foscari und der Stadt Venedig organisiert. Insgesamt 25 Schriftsteller aus 21 Ländern wurden im April 2018 eingeladen. Ihre Themen weisen wiederholt auf die Probleme unserer Zeit hin, stimmen nachdenklich.

Als wir wieder Platz nehmen, betrachte ich den Innenraum des Auditoriums mit dem großen Deckengemälde, das an die einstige Kirche erinnert, die zwei Ränge, die roten Plüschsessel.

Großer Applaus setzt ein für Gioconda Belli aus Nicaragua, die schon wiederholt in Nürnberg gelesen hat. Mit viel Gefühl und Temperament trägt sie ihre Texte vor. Ihrem Übersetzer gelingt es mühelos, diese wiederzugeben.

Die Gedichte des Chilenen Raúl Zurita sind stark geprägt von seiner Haft unter Pinochet. Mit großer Intensität vorgetragen, vermitteln sie ungemein eindrucksvoll seine Empfindungen und Reflexionen, was auch dem Übersetzer gelingt. Zurita erhält den größten Applaus dieser Veranstaltung, bei der ich einige Lesungen miterleben konnte.

Mit meinen Freunden trinke ich noch einen Espresso auf dem Campo. Wir lassen das Gehörte nachwirken, ehe wir uns trennen und ich meinen Spaziergang in dem verlassenen Viertel zwischen den Kirchen San Raffaele und San Sebastiano fortsetze und auf der Zattere auf das glitzernde Wasser des Giudeccakanals blicke und hinüber zu Palladios Kirche Il Redentore. Wieder einmal lasse ich mich von dem geheimnisvollen Venedig verzaubern.

Nürnberg, 26.04.2018

Copyright: Ulrike Rauh